Wenn man erst neun ist, wird man nicht gefragt, wenn die Eltern umziehen. Du wirst dich schon eingewöhnen, sagen allen. Schön wär’s, denkt Sami, der den alten Kastanienbaum jetzt schon vermisst.
Doch eines Tages lernt er Nicki kennen und Sami erzählt ihr von seiner wunderbaren Käfersammlung. Und Nicki zeigt ihm Minka und ihre drei Katzenbabys, die sie in einem Schuppen versteckt. Ab jetzt sind Samis Tage wie Wundertüten: Man weiß nie, was drin steckt…
Eine wunderschöne Freundschaftsgeschichte, liebevoll und warmherzig erzählt.
Kleine Leseprobe:
Samuel breitet die Arme aus und lässt sich vom Wind tragen. Die Luft ist weich und warm und angenehm. Unter sich sieht er die Stadt, den Fluss, seine Schule, den Nordpark und davor das Haus, in dem er wohnt. Pauline beugt sich aus dem Fenster und winkt ihm zu. Weit beugt
sie sich vor, viel zu weit. »Pass auf!«, schreit Samuel.
Und sie schreit zurück: »Pass selber auf, Klugscheißer.«
Aber da ist es schon passiert. Samuel verliert das Gleichgewicht, er fällt und fällt und landet sanft auf dem Bauch. In seinem Bett.
Vom Fliegen träumt er am liebsten. Und wie immer hält er den Traum für ein gutes Zeichen und denkt: Das wird ein schöner Tag. Aber als er sich umdreht, weiß er, dass sein Traum ihn getäuscht hat. Er sieht die kahlen Wände mit den verblassten hellen Flecken an den Stellen, wo bis gestern noch seine Lieblingszeichnungen hingen, er sieht die leeren Regalfächer, die herumstehenden Kartons. Von wegen schöner Tag. Heute ist ein absolut schrecklicher Tag.
Sie ziehen um. Der Traum vom Fliegen war ein Abschiedsgeschenk seines Zimmers, sonst nichts.
»Du bist ja mal wieder so amüsant wie eine Sumpfschildkröte«, sagt Pauline beim Frühstück.
Samuel zieht die Schultern hoch. »Wer kann schon amüsant sein, wenn er in einem Lagerschuppen aufwacht«, sagt er.
»Gib mal die Milch rüber.«
»Wie heißt das Zauberwort?«, sagt seine Mutter automatisch.
»Dalli-dalli.« Aber diesmal lacht niemand über seinen Witz.
Der Vater legt einen dicken, schwarzen Stift neben seinen Teller. »Hier, Sami, du musst deine Kartons noch beschriften. Mit Namen, damit die Möbelpacker wissen, in welches
Zimmer das Zeug kommt.«
Das ist eine traurige Arbeit. Im Moment wohl die traurigste Arbeit, die er sich vorstellen kann. Samuel/Bücher. Samuel/Sammlungen. Samuel/Wintersachen. Samuel/Sommersachen. Und so weiter und so weiter.
Später steht er am Fenster. Der Blick ist ihm so vertraut wie sein linker Daumen, den er sich vorhin, beim Aufeinanderstellen der Kartons, eingeklemmt hat und der ihm immer noch wehtut. Es wird auch nicht besser, als er ihn inden Mund steckt und ein bisschen daran herumnuckelt.
Hinter seinem Rücken türmen sich die ordentlich beschrifteten Kartons. Er braucht sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wie kahl und hässlich das Zimmer aussieht, das sein Leben lang seines gewesen ist, leere Regalbretter, eine nackte Kommode, ein Schreibtisch mit einer zerkratzten, fleckigen Platte.
»Die muss man unbedingt abschleifen«, hat sein Vater gestern Abend gesagt, als er sie betrachtet hat. »Du hättest ruhig früher mal Bescheid sagen können.«
»Du hättest sie dir ruhig früher mal anschauen können«, hat seine Mutter gesagt.
Früher hat man das doch überhaupt nicht gesehen, weil immer so viele Sachen draufgelegen haben, hat Samuel gedacht, aber gesagt hat er lieber nichts. Die Stimmung war nicht danach. Samuel weiß schon lange, dass es Momente gibt, in denen man besser den Mund hält.
Ein großes, altes, knallrotes Auto biegt um die Ecke und hält gegenüber, auf der anderen Straßenseite. Samuel schaut zu, wie Anna aussteigt und die Straße überquert. Ihre grauen
Haare leuchten in der Sonne wie feiner Silberdraht. Sie ist gekommen, um ihn abzuholen. Er wird bis Samstag bei ihr und Carlotta bleiben.
»Ich will nicht, dass du mir beim Umzug ständig vor den Füßen herumläufst«, hat seine Mutter
gesagt. »Bei Anna bist du besser aufgehoben und Papa und ich können in Ruhe alles erledigen.«
Mirjam Pressler
Wundertütentage
Beltz Verlag // € 12,90
Ab 8
Übrigens stammt die Cover-Illustration von Henriette Sauvant, deren Bilder wir sehr mögen (und nicht wie im Impressum vermerkt: Henriette Sanrant…)
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